Prof. Dr. Victoria Hegner
Die Kulturanthropologie erforscht die Formen des Alltagslebens in ihren Zusammenhängen mit wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, technologischen und ökologischen Konflikten und Transformationsprozessen. Sie wird auch als Empirische Kulturwissenschaft oder Europäische Ethnologie bezeichnet und befasst sich mit der konkreten kulturellen Praxis und den Positionen, den Erfahrungs- und den Gefühlswelten aller gesellschaftlichen Schichten, insbesondere aber von jenen, die als sozial-kulturell randseitig bzw. marginalisiert gelten. Sie wendet sich in dem Zusammenhang den gegenwärtigen Krisen der Demokratie zu, in denen die Ressourcen von ‚Zugehörigkeit‘, ‚Identität‘ und ‚Kultur‘ hart umkämpft sind. Dabei stehen ganz grundlegende Fragen von Weltanschauung und Religion, von Geschlecht und auch der Rolle der Wissenschaft zur Debatte.
Methodisches ‚Herzstück‘ ist die Ethnografie – das heißt, das unmittelbare Eintauchen in ‚andere‘ Lebenswelten mittels teilnehmender Beobachtung. Die Ethnografie gibt damit einen mikroskopischen Einblick darin, auf welche Weise gegenwärtige soziokulturelle wie gesellschaftliche Umbrüche und Setzungen ausgehandelt werden und buchstabiert immanent die modernen Formen von Individualisierung aus. Wie, so lautet die Kernfrage, setzen sich Menschen mit Transformationsprozessen wie Digitalisierung und Migration auseinandersetzen und wie gestalten sie diese mit? Gegenwärtige Perspektiven werden hier mit historischen Betrachtungen verschränkt, wobei das Fach eng mit der Kulturgeschichte kooperiert.
Mit dieser Form von Empirie und Analyse fungiert die Kulturanthropologie als ein wichtiges analytisches Korrektiv gegenüber vorschnell universalisierenden gesellschaftstheoretischen Annahmen bezüglich kultureller, sozialer und religiöser Polarisierung. Sie ist insofern auch eine Impulsgeberin für gesellschaftliche Debatten und bietet wissenschaftliche Wissensressourcen für demokratisch-emanzipatorische Bestrebungen.
Das Profil des Faches ist in Jena breit gesetzt. Es umschließt den Fokus auf die sich wandelnden Geschlechterverhältnisse, das Zusammenspiel von ‚Kultur‘ und ‚Natur‘ in Zeiten rasanten Klimawandels wie auch die ethnografische Stadtforschung und die Frage nach der Wandlung des ‚Urbanen‘ und ‚Ländlichen‘ in spätmodernen Zeiten. Das Fach blickt auf die Bedeutung von Popkultur und medialer Pluralisierung gleichermaßen, wie auf die Rolle von Religion – wobei der Religionsbegriff weit gesetzt ist und klar über mono- wie polytheistische Verständnisse hinausreicht. Die Kulturanthropologie interessiert dabei, wie in heutigen Globalisierungsprozessen Bezüge auf das Lokale und die Region neue Bedeutsamkeiten gewinnen. Ein besonderes Anliegen des Faches ist die ‚praktische‘ Umsetzbarkeit erworbenen Wissens. Projektbezogen werden Ausstellungen, Podcastserien, verschiedene wissenschaftlich-journalistische Formate erstellt, die in die Öffentlichkeit hineinwirken. Durch diese Form des praxisnahen und empirisch fundierten Arbeitens werden Studierende auf zahlreiche Berufsfelder vorbereitet.
In den kommenden Jahren wird der Schwerpunkt der Visuellen Anthropologie ausgebaut und neue wissenschaftliche Darstellungs- und Erzählformen und dabei Kenntnisse der Filmpraxis und Medienproduktion vermittelt.
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Vita
Studium
- 1992-1999 Studium der Europäischen Ethnologie und Neuesten Geschichte an der Humboldt-Univ. zu Berlin, Duke-University, Durham und University of Toronto
Wissenschaftliche Abschlüsse
- 2018 Habilitation: Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen
Thema: Hexen der Großstadt
- 2008 Dr. phil., Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin
Thema: Die russischsprachige jüdische Migration in Berlin und in Chicago – ein urbanethnologischer Vergleich
- 1999 Magistra Artium in Europäischer Ethnologie und Neuester Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin
Thema: Die Settelementbewegung in London, Chicago und Berlin: Ein sozialreformerisches Experiment Ende des 19. Jahrhunderts
Beruflicher Werdegang
- Ab 2024 Professur für Empirische Kuturwissenschaft/Kulturanthropologie
- 2022-2024 Heisenberg-Stelle
- 2021-2022 Vertretung einer Professur (W2), Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen
- 2020 Vertretung einer Professur (W3), Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
- 2017-2018 Vertretung einer Professur (C4), Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen
- 2016-2021 Hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte, Phil. Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen
- 2012-2016 DFG, eigene Stelle, Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen: Thema: Moderne Hexen der Großstadt
- 2009-2012 Lehrkraft für besondere Aufgaben, Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen
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Forschungsschwerpunkte
- Stadtforschung
- Neue Religiöse Bewegungen
- Geschlechterforschung
- Wissen(schaft)sgeschichte, insbesondere zur Umbruchsituation nach 1989
- Methode der Ethnografie
- Medienanthropologie
- Sinnliche Ethnografie
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Aktuelle Drittmittelprojekte
2022-2027: Heisenberg-Förderung
- 1. „Politiken der Gleichheit – Eine Ethnografie zur Gleichstellungspraxis im Feld der WissenschaftExterner Link"
- 2. „Spirituelle ÖkologienExterner Link“
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft: Finanzierung der Professur für drei Jahre inkl. Forschungsbudget
2022-2025: Postcards and Postcarding Culture in Germany and Israel 1960-2000: Addressing an Ambivalent Habitual Object in Times of Historical Upheavals
- In Kooperation mit der Hebrew University in Jerusalem, Dr. Dani Schrire, gefördert durch die VolkswagenStiftung mit € 320.000
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Schriftenverzeichnis
Monografien
- 2019: Hexen der Großstadt. Urbanität und neureligiöse Praxis in Berlin. Externer Link Bielefeld: Transcript Verlag.
- 2008: Gelebte Selbstbilder. Gemeinden russisch-jüdischer Migranten in Chicago und Berlin Externer Link. Frankfurt am Main: Campus.
Aufsätze/Herausgeber*inschaft
- 2024: Von den Grenzen der Loyalität in der ethnografischen WissenschaftsforschungExterner Link, in: Heimerdinger, Timo/Näser-Lather, Marion (Hg.). Position beziehen, Haltung zeigen!? Bedingung und Problem kulturwissenschaftlicher Forschung. Münster: Waxmann, 155-174.
- 2023: Erfahrung und Geschlecht – Was über den Diskurs hinaus gehtExterner Link. In: Röthl, Martina/Sieferle, Barbara (Hg.). Erfahrung. Kulturanalytische Relationierungen: Positionen und Zugänge der Europäischen Ethnologie. Waxmann, 115-136.
- 2020: Umbruchsituationen. Die Fachentwicklung in der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie nach 1989. Externer LinkIn: Zeitschrift für Volkskunde 116:2, 193-216.
- 2015a: Hot, Strange, Völkisch, Cosmopolitan – Native Faith and Neopagan Witchcraft in Berlin`s Changing Urban Context, Externer Linkin: Rountree, Kathryn (Hg.). Contemporary Pagan and Native Faith Movements in Europe: Colonial and Nationalist Impulses. Oxford: Berghahn, 175-195.
- 2013b: Vom Feld verführt. Methodische Gratwanderungen in der EthnografieExterner Link, in: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 14(3), Art. 19, http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/viewFile/1957/3597Externer Link
- 2012: Urban Witchcraft and the Issue of Authority,Externer Link in: Fedele, Anna & Kim Knibbe (Hg.). Gender and Power in Contemporary Spirituality. Ethnographic Approaches. New York: Routledge, 142-159.
- 2015b: “I am what I am …” …” Identitätskonzepte junger russischsprachiger Juden in Chicago, in: Körber, Karen (Hg.). Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland. Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Diaspora im Wandel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 82-106.2013a: Hex and the City. Neopagan Witchcraft and the Urban Imaginary in Berlin, in: Ethnologia Europaea 43:1, 88-97.
- 2017: mit Peter Jan Margry: Spiritualizing the Urban and the Urbanesque, in: Hegner, Victoria & Peter Jan Margry (Hg.). Spiritualizing the City: Agency and Resilience of the Urban and Urbanesque Habitat. Externer LinkNew York: Routledge, 1-23.
- 2021: Die Wiederkehr des Biografischen in der Wissenschaft und ihre feministische Wendung.Externer Link In: Alltag – Kultur – Wissenschaft. Beiträge zur Europäischen Ethnologie, 107-131.
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