Vorlesung im Kino (WS 2023/24)
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Filmkultur und Holocaust am Beispiel Italien
Di, 16:00 – 20:00 Uhr, Kino im Schillerhof, Helmboldtstr. 1, Jena
Die Holocaustauseinandersetzung vollzieht sich in Italien seit 1945 entlang einer scharfen Polarisierung von rechts und links, die Italien immer wieder an den Rand eines Bürgerkriegs führt; hinter dieser Polarisierung steht (wie wir heute wissen) die Angst vor dem Kommunismus. So, wie Ost- und Westdeutschland einander in Bezug auf den Holocaust funktionalisieren, so tun dies linke und rechte Kreise in Italien: Unter diesen Vorzeichen findet einerseits eine Marginalisierung der Beteiligung Italiens am Holocaust von rechts statt; andererseits ist schon relativ früh eine Metaphorisierung des Holocaust auf Seiten der Linken erkennbar, indem dieser synonym für die totale Unterwerfung des Menschen im Neokapitalismus und d.h. seine völlige kulturelle Homogenisierung steht (prominent etwa bei Pier Paolo Pasolini) und damit dem Lagerdenken des Kalten Krieges zuarbeitet. Zugleich wird, durch den linken Mythos der Selbstbefreiung (der sog. „resistenza“) und den rechten der Verführung durch den NS (die sog. „brava gente“, die „guten Leute“, die von nichts wussten), die Beteiligung Italiens am Holocaust verdrängt. Insofern werden uns auch die wenigen frühen, bei der Mythenbildung behilflichen, neorealistischen Filme zu beschäftigen, die sich nicht mit der Beteiligung Italiens am Holocaust auseinandersetzen: Paradebeispiel ist etwa Roberto Rossellinis Roma città aperta von 1945, der die deutsche Besatzung in Rom in aller Brutalität zeigt, das Schicksal des jüdischen Ghettos aber ebenso komplett ausspart wie auch der Dokumentarfilm Giorni di gloria (IT 1945, Luchino Visconti et al.). Wie im deutsch-deutschen Kino haben wir es hier auch innerhalb einzelner Filme mit einer Mischung aus Genreelementen (v.a. Melodrama) und dokumentarischen Formen zu tun: Etwa in Gillo Pontecorvos Kapò (1960), in L. Viscontis Vaghe stelle dell'orsa (1965) oder seinem Film La caduta degli dei (1969). Schließlich ist das italienische Kino auch bekannt für neue Genrebildungen in diesem Zusammenhang wie die des sog. sadiconazista: Der Begriff fasst eine Gruppe von Filmen der 1960er-70er Jahre, die pornographische Darstellungen an das Martyrium in KZs binden (etwa Filme von Liliana Cavani, Tinto Brass, P. P. Pasolini). Dieser internationale Einfluss setzt sich fort mit der Holocaustkomödie La vita è bella (IT 1997, Roberto Benigni), die zum Vorbild zahlreicher ähnlicher nichtitalienischer Filme wird.
Die Vorlesung im Kino will anhand ausgewählter Filme der letzten 70 Jahre einen Überblick über die verschiedenen, sich wandelnden Formen des Wissens, der Aufarbeitung des Holocaust und der Erinnerung an diesen schaffen.